Es ist unfassbar, wie ein Land geltendes Recht mit Füßen tritt. Frust, Enttäuschung, Ärger, Wut – eine Mischung aus all dem steckt noch immer in uns von heute. Auf Anweisung unseres Koordinators haben wir heute einen 17-jährigen Jungen aus Eritrea zur Polizeistation gebracht. Er wollte am Bahnhof zu einer nahegelegenen Unterkunft für Minderjährige, hatte aber kein Geld für das Ticket. Weil die Polizei für den Schutz von Minderjährigen zuständig ist, sollten wir ihn zur Wache bringen, damit sie für den Transfer nach Saint Omer sorgen.
Auf der Wache riefen sie irgendwo an und sagten uns danach, dass das Center heute geschlossen wäre und wir es morgen wieder versuchen sollen. Auf die Frage, was wir machen sollen, der Junge würde sonst auf der Straße schlafen, hieß es nur: “Wir haben keine Lösung für euch.” Wir sollten morgen wieder kommen. Danach wurden wir aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Unsere Koordinatoren schalteten daraufhin eine Organisation ein, die bei rechtlichen Problemen hilft. Wir erfuhren, dass das Center in Saint Omer noch Platz für ihn hätte. Mit dieser Information klingelten wir also erneut, sagten dies.
Die Antwort: “Morgen!”.
Reingelassen wurden wir nicht mehr. Auch auf weiteres Klingeln wurde nicht mehr reagiert.
Als wenig später drei Polizisten gerade von der Streife zurück zur Wache kamen, sprachen wir diese an und baten um Hilfe. Sie sagten, dass sie sich darum kümmern wurden und nahmen den Jungen mit rein, wir durften ihn nicht mehr begleiten. Zehn Minuten später klingelten wir erneut und wollten wissen, was nun passieren wird. Daraufhin kam ein anderer Polizist raus und raunte uns entgegen: “Das ist nicht euer Problem. Das ist das Problem der Polizei!” Wir entgegneten, dass die Regierung und damit auch die Polizei für die Sicherheit von Minderjährigen verantwortlich seien. Die Antwort darauf war ein Platzverweis vom Gelände der Polizeistation. Wir blieben stehen und wieder einige Momente später kam einer der drei Polizisten, die wir angesprochen und um Hilfe gebeten haben. Er sagte, sie würden den Jungen in eines der Zentren bringen. Nach dem, was wir erlebt haben, haben wir dennoch ein sehr schlechtes Gefühl dabei, den Jungen alleinegelassen zu haben. Wir werden morgen versuchen rauszufinden, was wirklich geschehen ist.
Denn wie die Polizei handelt, haben wir wenig vorher am Bahnhof erlebt. Teilweise schwer bewaffnet stehen sie schon am Eingang. Sie holten drei Minderjährige Jungs aus dem Zug, die ebenfalls in das Zentrum nach Saint Omer wollten, weil sie kein Ticket hatten und fragten sie danach an die Wand gestellt aus. Als sie ihre Alter nannten, folgte keine Reaktion der Fürsorge. Weil das Englisch der Polizisten weitaus schlechter war als das der Flüchtenden, war die Kommunikation ohnehin kaum möglich. Als wir uns einschalteten, sagten sie, dass Problem sei, dass sie keine Tickets hätten. Wir boten an, es zu kaufen und damit war die Situation aufgelöst. Wären alle Probleme so einfach lösbar – wir hätten keine mehr…
Am Bahnhof haben wir über unsere Schicht etwa zehn Menschen betreut und mit benötigter Kleidung sowie Essen ausgestattet, die wir noch vom Vortag übrig hatten. Sieben von ihnen waren unter 18 Jahre alt.
Wir waren auch wieder im Abschiebegefängnis. Mit drei Namen auf dem Zettel waren wir guter Dinge, dass es reibungslos ablaufen würde. Zuerst wurden wir aber nicht reingelassen, weil niemand auf unserer Liste auch auf der der Polizei stand. Der Sudanese, den wir gestern gesprochen hatten, war bei Gericht, von den anderen wissen wir nicht, was passiert ist. Abgeschoben, auf freiem Fuß? Das konnte uns vor Ort niemand beantworten. Wir riefen daher in den Zellblöcken an und bekamen zwei Leute ans Telefon, darunter den Mici aus Albanien, den wir gestern schon besucht hatten. Er möchte zurück nach Albanien, weil seine Eltern krank sind. Seine Dokumente und ein Rucksack liegen aber noch in Düsseldorf beziehungsweise Dortmund, weshalb er nicht in sein Heimatland abgeschoben werden kann. Wir wollen in den nächsten Tagen versuchen, ob wir ihm dabei helfen können. Dafür müssen wir uns aber selber noch informieren, wer die richtigen Ansprechpartner sind. Die zweite Person aus Afghanistan durften wir allerdings nicht besuchen: Der Name, den er uns buchstabiert hat, stimmte nicht mit dem auf der Liste der Polizei (die wir nicht sehen dürfen) ein. Und wenn nur ein Buchstabe abweicht, dürfen wir die Person nicht besuchen.
Abends sind wir wieder zur Verteilung in das Industriegebiet gefahren. Etwa 30 Menschen haben uns dort trotz Regen, Kälte und Wind getroffen. Wir haben mit Care4Calais und anderen Organisationen alle, die wollten, mit wasserdichter Kleidung versorgt, Tee und Essen verteilt. Heute haben wir auch erlebt, wie es aussieht, wenn dabei die Polizei auftaucht: Sobald das Auto gesehen wird, rennen die Menschen Richtung Feld und Wald, um auf Distanz zu bleiben. Die Polizisten sind jedoch nicht ausgestiegen sondern nur vor unsere Autos gefahren – wahrscheinlich, um die Kennzeichen zu notieren. Danach fuhren sie weg und die Menschen kamen wieder zu uns.
Wir haben uns dort auch mit einem Eritreer unterhalten, der bereits gut Englisch spricht. In Frankreich halten sich viele Eritreer, Sudanesen und Afghanen auf. Auf die Frage, warum er sein Land verlassen hat, antwortete er nur: “Eritrea ist eine Diktatur.” Er möchte nach England, weil er dort Verwandte hat.
Das CAO ( staatliche Unterkünfte) in Le Havre hat er verlassen, weil die Versorgung dort nicht ausreichend ist. Da sei es besser, in den Wäldern und Straßen von Calais zu schlafen mit der Hoffnung, es doch eines Tages nach London zu schaffen. Wir möchten an dieser Stelle zum Abschluss einen Spiegel-Artikel aus 2016 zitieren, der von der EU-Politik und den Zuständen in afrikanischen Ländern, darunter Eritrea, handelt. “Eritrea ist ein Staat, über den selbst Diplomaten offen sagen, er sei eine beinharte Diktatur. […] Die Regierung habe “in den vergangenen 25 Jahren systematisch Menschenrechtsverbrechen begangen”, so ein aktueller Uno-Bericht. Sicherheitskräfte würden mit Billigung der Regierung willkürlich inhaftieren, foltern und töten.”
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