Nun Sag‘, Sprichst auch du vom „Wirtschaftsflüchtling“?

Der Ausdruck „Wirtschaftsflüchtling“ ist ein in der politischen Debatte in Deutschland häufig gebrauchter Begriff, um Menschen zu beschreiben, die aus vermeintlich rein ökonomischen Gründen in die Europäische Union und nach Deutschland fliehen, um Asyl zu beantragen. Der Begriff und seine Verwendung sind problematisch. Wir erklären, warum das ist und weshalb wir ihn lieber nicht benutzen.

1. Der Begriff ist irreführend.

Der Begriff Flüchtling ist rechtlich klar definiert als jemand, der aus politischen Gründen verfolgt wird. Menschen, die ihre Heimat aus rein wirtschaftlichen Gründen verlassen, fallen nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention und nicht unter das deutsche Asylrecht. Sie sind recht keine Flüchtlinge. Es kann und sollte aber natürlich diskutiert werden, ob Menschen, die vor Armut und Elend fliehen, ebenfalls als Flüchtlinge anerkannt werden müssen. Generell haben alle Menschen ein Recht darauf, einen Asylantrag zu stellen und sind bis zur Entscheidung rechtlich gesehen Asylbewerber*innen.

2. Der Begriff ist negativ konnotiert und wird von Rechten instrumentalisiert.

Der Begriff impliziert, dass zahlreiche Menschen auf der Flucht keinen Schutz benötigen und stellt Menschen unter den generellen Verdacht, die Asylsysteme zu missbrauchen. Er drückt aus, dass das tatsächliche Motiv für die Flucht ausschließlich wirtschaftliches Eigeninteresse sei. In diesem Sinne wird der Begriff von rechten Gruppierungen verwendet, um Menschen die Notwendigkeit zur Flucht abzusprechen und ihnen das Recht auf einen Asylantrag zu verwehren oder zu erschweren. Gleichzeitig implizieren sie, dass Geflüchtete der Bevölkerung wichtige Ressourcen wegnehmen, wie etwa Wohnraum oder staatliche Zuwendungen.

3. Die Behauptung, die meisten Menschen würden aus wirtschaftlichen Gründen fliehen, ist falsch.

Bis Oktober stellten im Jahr 2021 rund 131.700 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Die große Mehrheit davon stammt aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und dem Irak – alles Länder, in denen autoritäre Regime und Bürgerkrieg vorherrschen. Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert.

4. Es kann nicht eindeutig zwischen wirtschaftlichen und politischen Fluchtgründen unterschieden werden.

Die vielfältigen Gründe, aus denen Menschen ihre Heimat verlassen, sind nicht klar voneinander trennbar. Bürgerkrieg, Diskriminierung, Korruption, Armut und andere Umstände bedingen sich gegenseitig. Die Grenze zwischen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fluchtgründen ist fließend.

Ein Beispiel ist die deutsche Geschichte: Als während der Teilung Deutschlands Menschen von der DDR in die BRD flohen, taten dies viele aus politischen Gründen. Angesichts der Mangelwirtschaft in der DDR spielten aber auch wirtschaftliche Gründe eine Rolle.

5. „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Balkan?

Oft werden mit „Wirtschaftsflüchtlingen“ Menschen aus den Balkanstaaten assoziiert. Das Argument ist, dass Staaten wie Albanien, Bulgarien oder Bosnien und Herzegowina über stabile politische Systeme verfügen und daher als sicher einzustufen seien. Es sollte jedoch beachtet werden, dass in diesen Ländern der Minderheitenschutz nicht gewährleistet ist. So fliehen vor allem Sinti und Roma, die in diesen Staaten diskriminiert und verfolgt werden.

Die Rolle der Politik

Die deutsche Politik hat einen entscheidenden Anteil an der pauschalen Unterscheidung zwischen denen, die als „richtige“ Flüchtlinge angesehen werden und solchen, die aus ihrer Sicht aus „minderen“ Fluchtgründen nach Deutschland kommen. Durch die Kategorisierung von zahlreichen Staaten als „sicheres Herkunftsland“ zur Beschleunigung von Asylverfahren werden hunderte Menschen pauschal als nicht politisch verfolgt und daher nicht als asylberechtigt eingestuft. Es ist dringend nötig, Einzelfälle zu prüfen und individuelle Entscheidungen zu treffen.

Wir sollten den Begriff nicht gebrauchen.

Die Unterscheidung in politische Flüchtlinge und „Wirtschaftsflüchtlinge“ ist nicht haltbar und hat rechtlich keine Grundlage. Menschen pauschal zu kategorisieren, ohne Einzelfälle zu kennen und zu prüfen ist gefährlich. Es geht hier um Menschen, die aus vielschichtigen Gründen ihre Heimat verlassen und sich auf eine oft lebensgefährliche Reise begeben. Anstatt Menschen willkürlich zu kategorisieren, sollten wir sichere und legale Flucht- und Migrationswege schaffen und eine menschenrechtskonforme Aufnahme ermöglichen.

Quellen: 
Bade, Klaus (2015): Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik BpB.
Bollmann, Ralph (2015): „Ein Lob dem Wirtschaftsflüchtling“. FAZ.
Süddeutsche Zeitung (2015): „Vor allem Wirtschaftsflüchtlinge kommen zu uns.“
Nassehi, Armin (2015): Der Hass auf den „Wirtschaftsflüchtling“. FAZ.
Statista (2021): Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern in Deutschland im Jahr 2021.


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