Bereits am Samstag und die letzten drei Tage hatten wir in Larissa die Chance, auch noch die anderen Angebote im Camp kennenzulernen. Intervolve versorgt das Camp, neben Lebensmitteln, auch mit Community Space.
In beinahe allen Camps ist Gemeinschaft vor allem im heißen Sommer in Griechenland ein Problem. Ohne Schatten lässt es sich draußen nicht aushalten und die kleinen “caravanas” sind nicht wirklich geeignet, um sich mit vielen Menschen in ihnen aufzuhalten. Kinder und auch Erwachsenen fehlt es also an Gemeinschaft. Denn nicht zuletzt hilft diese, die soziale Stimmung im Camp zu verbessern, wenn gemeinschaftliche Aktivitäten auch außerhalb der eigenen Familie möglich sind. Intervolve hat deswegen Räume geschaffen, in denen sich Menschen begegnen und auch tagsüber Zeit verbringen können: Das “pink house” ist ein Raum nur für Frauen, in dem eigene Sachen genäht werden können und es einen Beauty- und Friseursalon gibt. Es werden außerdem wechselnde Aktivitäten, ausgerichtet an den Wünschen und Bedürfnissen der Frauen, angeboten. Dieser Raum ist für viele Frauen im Camp der einzige Ort, an dem sie Privatsphäre außerhalb ihrer Familien haben. Entspannt und ungestört von Männern oder Kindern.
Nicht weit entfernt steht auch die Bibliothek, die uns ganz besonders beeindruckt hat. Wir haben auch in anderen Camps viele Angebote für Kinder gesehen, meistens sehr laute und wilde. Die Bibliothek öffnet Samstag bis Donnerstag von 17-20 Uhr. Die ersten zwei Stunden sind dem Lesen gewidmet. Es gibt klare Regeln und es soll zunächst ein Ort der Ruhe sein. Gegen 18:30 wird dann eine gemeinsame Aktivität gestaltet. Viele der Kinder scheinen den Ort tatsächlich als Rückzugs- und Ruhe Ort zu nutzen, in dem sie ungestört lesen können. Alleine oder auch gemeinsam. Es ist im Camp – gerade dort wo Kinder sind – immer laut und wild. Die Bibliothek ist einer der wenigen Gemeinschaftsplätze, an dem es Regeln gibt die meistens, längst natürlich nicht immer, auch eingehalten werden. Diese Regeln sind sehr einfach und die meisten Kinder kennen sie bereits und halten sich zumindest meistens an sie. Das System funktioniert vor allem dadurch, dass Kinder, die dauerhaft stören oder im Umgang mit anderen Kindern Gewalt anwenden, zwar abgemahnt und auch weggeschickt werden können. Die Konsequenzen sind jedoch auf einen Zeitraum begrenzt, der sich von zwei Minuten bis auf den ganzen Tag vergrößert. Nie aber wird ein Kind für immer von Aktivitäten ausgeschlossen. Oft reicht es schon, wenn sich ein Kind zwei Minuten hinsetzt und runterkommt. Das versuchen wir auch zu vermitteln. Es soll keine Strafe sondern eine Option sein, ruhig zu werden. Immer machen wir dabei deutlich, dass es kein Problem ist, dass wir persönlich nicht sauer auf sie sind, dass sich nur ihr Verhalten ändern muss, wenn sie bleiben wollen.
Diese Form von Struktur wird überwiegend gut angenommen und gerade an so einem chaotischen Ort wie einem Flüchtlingscamp ist das eher die Ausnahme als die Regel. Nichtsdestotrotz ist das Verhalten vieler Kinder außerhalb der Bibliothek und ihrer Regeln erschreckend gewaltvoll. Viele Kinder reagieren auch schon bei kleinen Provokationen mit Gewalt, werfen Steine oder werden handgreiflich. Auch hier gibt es klare Regeln, wie damit umzugehen ist, aber das Problem bleibt bestehen: Kinder, die nicht richtig zur Schule gehen können, keine Alltagsstruktur und zum großen Teil auch massive traumatische Erfahrungen gemacht haben, brauchen viel Unterstützung. In einem Flüchtlingscamp ist das nur sehr erschwert möglich. Jeden Tag erzählt mir ein Kind wo seine Mutter, sein Vater oder seine Geschwister sind. In Schweden, Deutschland, Österreich, England überall. Zum Teil haben sich Kind und Elternteil seit Jahren nicht gesehen. Es ist so normal hier, dass ich mich selbst dabei erwische, gar keine emotionale Reaktion mehr darauf zu haben. Aber es nicht normal. Es ist dramatisch, Familien, die aus Verzweiflung getrennt wurden, über Monate und Jahre getrennt zu lassen, obwohl ihnen Familienzusammenführungen rechtlich zustehen. Es ist dramatisch für Kinder, die das nicht verstehen können und die dadurch weiter traumatisiert werden. Es schadet der Integration und es widerspricht dem Kindeswohl. Wir werden uns diesem Thema in den nächsten Tagen noch ausführlicher widmen, da wir am Freitag mit zwei Familien, die wir schon lange kennen und deren Geschichte wir schon lange verfolgen, nach Athen fahren werden.
Geschrieben von Kim.
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