Das Jahr 2020 ist fast vorbei. Für viele war es kein leichtes Jahr. Und dennoch sah das Jahr der Menschen, die an den europäischen Außengrenzen ausharren müssen, noch mal ganz anders aus. Wie hätte dein 2020 ausgesehen, wärest du in Moria?
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Januar
Dein Jahr hätte schon in einem überfüllten Camp begonnen, 20.000 Menschen in einem Camp, das für 3.000 ausgelegt ist. Die Stimmung ist von Beginn an verzweifelt und angespannt.
In der Silvesternacht wird ein Mann im Camp erstochen, Mitte Januar ein zweiter Mann, 20 Jahre jung. Du hast Angst.
Februar
Im Februar bist du einer von 2.000 Menschen, die in der Hauptstadt Mytilene gegen die unzumutbaren Zustände protestieren wollen. Ihr fordert endlich aufs Festland gebracht zu werden, ein gerechtes Verfahren zu bekommen, nicht in ein Abschiebecamp zu kommen. Ihr ruft „Freiheit, Freiheit“, die Polizei antwortet darauf mit massivem Einsatz von Tränengas, obwohl Kinder unter den Protestierenden sind. Es gibt viele Verletzte.
März – April
Im März kommt eine neue Bedrohung hinzu: Das Corona Virus. Während du davon hörst, dass Kinder anderswo von zu Hause unterrichtet werden und Menschen in einen „Lockdown“ gehen, gibt es im Camp keine Möglichkeit, Abstand zu halten oder Hygienemaßnahmen einzuhalten. Es gibt keine Masken und die gesundheitliche Versorgung ist sowieso schon schlecht. Viele freiwillige Helfer*innen reisen ab.
Mai
Du sammelst Hoffnung: Berichten zu Folgen sind in Europa viele Menschen bereit, mehr Menschen Schutz zu gewähren. Hasthtags wie #leavenoonebehind kommen auf.
Du fragst dich, ob die Erfahrung einer globalen Pandemie, die uns allen zeigt, dass Menschen sich Grenzen ausgedacht haben und Katastrophen sie auch dein Leid sehen und dir fehlen. Du hoffst, das Europa der Menschenrechte und der Solidarität existiert doch.
Juni – August
Die Wasserversorgung im Camp ist schlecht. Du hörst davon, dass es illegale Push Backs gab. Du hast Angst selbst illegal abgeschoben zu werden.
Du verlierst Stück für Stück die Hoffnung. Die rechtliche Lage verschärft sich und Menschenrechtsverletzungen gehören zum Alltag. Illegale Zurückführungen sind inzwischen mehrfach nachgewiesen. Du hörst auch von Ertrunkenen der letzten Monate. Währenddessen scheint die Welt erneut zu vergessen, dass es dich gibt.
September
Die Situation in Moria zermürbt dich, du bist verzweifelt und einsam. Du wachst mitten in der Nacht auf, überall Rauch und Flammen: Das Camp um dich herum brennt. Die Menschen flüchten in Panik. Du rettest dich mit anderen auf einen nahegelegenen Parkplatz und verbringst dort die nächsten Tage unter freiem Himmel. Alles was du noch besessen hast, ist zerstört.
08.09. Moria brennt
Oktober
Du bist jetzt in einem neuen Camp, das weit schlimmer ist als Moria. Karatepe ist weit abgelegen an der Küste. Es ist überschwemmt. Die Zelte sind dem Wind schutzlos ausgeliefert.
Journalist*innen und NGOs haben weniger Zutritt. Nun sieht erst recht niemand mehr was geschieht. Du hast seit Tagen nicht geschlafen, der Wind ist nachts so laut, dass an Schlaf nicht zu denken ist. Es gibt nur manchmal Elektrizität und meistens kein Internet. Du hast kaum Kontakt zu deiner Familie und Freunden.
November-Dezember
Es ist kalt, dir ist kalt. Das Camp fühlt sich wie ein Gefängnis an. Du siehst ein Foto der Brände, ein Kind trägt ein anderes, es wurde UNICEF Foto des Jahres. Du fragst dich, wie die Menschen in Europa es zulassen können, dass andere Menschen so behandelt werden.
Du hast keine Vorsätze fürs nächste Jahr, keine Pläne, keine Kraft für Träume. Dein einziges Ziel ist Hoffnung zu finden und deinen Lebenswillen nicht zu verlieren. Du entscheidest auf dieses Jahr nicht mehr zurückzublicken.
Du richtest deinen Bick in die Zukunft und hoffst darauf, es möge dir jemand endlich eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben geben. Denn du bist ein Mensch, wie jeder andere und hast nur dieses eine Leben.
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Die Situation für geflüchtete Menschen, die in Europa Schutz suchen, war 2020 erneut nicht hinnehmbar. Schau hin und mache andere Menschen darauf aufmerksam. Lass niemanden zurück, gemeinsam können wir uns 2021 für Menschenrechte in Europa einsetzen.
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