Die neu aufgerüsteten Grenzstellen erinnern an eine andere, einige dachten wohl schon vergessenene, Zeit in Europa. Von einem vereinten, offenen Europa haben wir uns nie weiter entfernt gefühlt.
Um 9:45 Uhr ging es für uns Dienstag morgen wieder los. Mit Karin und ihren medizinischen Versorgungskoffern bepackt fuhren wir zunächst an die serbisch-ungarische Grenze nach Röszke\Horgos und später an die Grenzstelle Tompa\Kelebija. Wir halfen Karin, eine Gruppe Menschen, die von einem Versuch die Grenze nach Ungarn zu überqueren zurückkamen, medizinisch zu versorgen. Einige waren von der ungarischen Polizei geschlagen worden, viele hatten Schmerzen und wunde Füsse. Sie zeigten uns Handys, die von der Polizei mutwillig zerstört worden waren, um ihnen Kommunikation und Orientierung zu nehmen. Währenddessen versorgte Sirius Help die Menschen hier mit Kleidung, Schlafsäcken und zum Teil auch mit Lebensmitteln. Wir passierten dafür die Grenzstelle, mussten aber aufpassen uns nicht zu weit zu entfernen, um nicht versehentlich auf serbischen Boden zu treten.
Die neu aufgerüsteten Grenzstellen erinnern an eine andere, einige dachten wohl schon vergessenene, Zeit in Europa. Von einem vereinten, offenen Europa haben wir uns nie weiter entfernt gefühlt. Die Grenzen in den Köpfen unserer Gesellschaft sind längst grausame Realität geworden und es ist erschreckend, wie schnell es geht, neue Zäune zu bauen und Stacheldraht zu ziehen; hat es doch so lange gedauert und so viel Kraft gekostet, sie einst einzureißen.
Sirius Help berichtete uns, dass die ungarische Regierung offiziell jeden Tag fünf Menschen über die Grenze lässt. Und auch das nur, weil sie UN-Mitglied ist und dadurch gezwungen, Asyl in irgendeinem Maße zu gewähren. Die Abläufe zwischen der Grenzpolizei und den Freiwilligen scheinen routiniert und gut zu funktionieren. Besonnen und ruhig verhalten sich die Helfer, erklären den stetig wechselnden und deshalb oft neuen Grenzpolizisten zum Teil sogar, dass sie die Taschen mit Versorgungsgütern überprüfen müssen, damit keine Messer, Feuerzeuge oder ähnliches reinkommen. Es repräsentiert, was in Europa heutzutage so häufig der Fall ist: Die einzigen, die in dieser Krise humanitäre Verantwortung übernehmen, sind Freiwillige und Hilfsorganisationen. Menschen, die sich entschieden haben, es zu tun, weil die, deren Job es wäre, sich auch jetzt noch davor drücken. Wofür brauchen wir Regierungen, die Probleme aussitzen und verschlimmern, anstatt menschlich und nach demokratischen Grundsätzen zu handeln?
Menschenrechte und Flüchtlingskonventionen sind kein gut gemeinter Ratschlag, ohne sie ist unsere Menschlichkeit verloren. Was den Menschen, die in ihrer Flucht Schutz und Hoffnung suchen zugemutet wird, ist weit von dem entfernt, was wir glauben, ertragen zu können. Es ist bitter kalt. Menschen schlafen in Zelten, wenn nicht sogar ungeschützt im Wald. Auch unbegleitete Minderjährige sind dabei, ein Junge war gerade mal 10 Jahre alt und ohne Familie allein unterwegs. Wie kann es um Kinderrechte in Europa stehen, wenn diese Dinge, ohne mit der Wimper zu zucken, hingenommen werden? Das Absurdeste ist, dass die Menschen einem dennoch höflich und dankbar begegnen.
Wir können nur hoffen, dass sie irgendwann ein besseres Leben erwartet. Dass sich ihre unerschütterliche Würde irgendwann bezahlt macht. Die Menschen, die wir überall in Europa so viel erleiden lassen, verdienen, in der Zukunft eine bessere Gesellschaft vorzufinden. Und es ist unser aller Job – in Deutschland und überall in Europa – diese Gesellschaft zu erschaffen. Denn wir sind diese Gesellschaft im Guten mit ihrem großartigen, vielfältigen Engagement genauso wie im Schlechten mit ihren brutalen, unmenschlichen Grenzen. Wir müssen uns endlich entscheiden, in was für einer Welt wir leben wollen und dann müssen wir anfangen, sie aufzubauen.
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