Wenn Rettung unter Strafe steht – Einsatzbericht aus Lesbos

Zwei Monate können sich wie zwei Jahre anfühlen. Zwei Monate habe ich mit der griechischen NGO Emergency Response Center International (ERCI) gearbeitet. Zwei Monate, die sich wie zwei Jahre anfühlen. Zwei Monate, in denen so viel passiert ist, dass es mir noch immer schwer fällt, alles zu begreifen. Es ist wie ein schlechter Traum, aus dem ich lieber wieder aufwachen würde.

Sarah und Seán

Free Sarah, Sean und NassosSarah ist jünger als ich, 23 Jahre jung. Mit ihrer Schwester Yusra ist sie aus Syrien geflohen. Beide sind professionelle Schwimmerinnen. Beide sprangen aus dem Boot, als es auf dem Weg von der Türkei zur griechischen Insel Lesbos zu sinken drohte. Gemeinsam mit weiteren Mutigen, die sprangen und das Boot zwei Stunden lang Richtung Sicherheit zogen, retteten sie 18 Menschenleben. Als ich Sarah kennenlerne, erklärt sie mir, ich solle mich von ihrem resting Bitchface nicht abschrecken lassen. Dann lacht sie laut und einnehmend. Im August arbeiten wir beide für ERCI. Genauso wie Seán, 24, ebenfalls jünger als ich. Er macht meine Einführung, mein Protection Training und mein Training for Search and Rescue – obwohl letzteres überflüssig sein wird. Er hat am Trinity College in Dublin studiert, ein ähnliches Fach wie ich und wir unterhalten uns über alles Mögliche. Er hat seinen Master im Gegensatz zu mir schon abgeschlossen und will sich demnächst in Kriegsgebieten bewerben. Er möchte Menschen helfen, dort wo seine Hilfe am dringendsten gebraucht wird. Seine Mutter sei aber nicht sehr erfreut, »zu gefährlich«. Wenn sie wüsste. Am 13. August hole ich Sarah aus Moria ab, sie hat eine Art Bewerbungsgespräch. Eine große Sache, eine Rede, um unser Projekt vorzustellen. Bis zu einer Million Euro Unterstützung könnten wir bekommen. Damit könnte die Klinik, die wir in Moria betreiben, komplett neu konzipiert werden; mit dem Geld könnten wir Menschen wirklich helfen. Immer wieder fragt sie alle, was sie vorschlagen würden, welches Projekt am besten wäre. Wir träumen gemeinsam davon, wirklich etwas zu bewegen. Trotz allem. Trotz eines Systems, das stetig versucht uns zu behindern.

ERCI Freiwillige und Freunde von Sarah und Sean kurz vor der Festnahme

Moria

Ein Raum der ehemaligen# Klinik in MoriaMoria ist ein schrecklicher Ort. Ein Camp, das für 3000 Menschen gebaut wurde und offiziell knapp 10.000 Menschen beherbergt. In Wirklichkeit sind es sicher 12.000. Ich war nie in Moria. Ich wollte es auch nie sehen. Ich habe genug Camps gesehen, um zu wissen, wie es dort riecht und aussieht, wie die Hoffnungslosigkeit aus jeder Ecke aufsteigt. Ich bin keine Dolmetscherin und auch keine Ärztin, in unserer Klinik hätte ich keine Aufgabe und deshalb keinen Grund, mich an diesem Ort aufzuhalten, an dem ich nicht viel helfen kann. Niemand sollte sich an so einem Ort aufhalten müssen und schon gar nicht sollte irgendwer dort leben. Ich habe als Koordinatorin gearbeitet und die Freiwilligen von ERCI so gut ich konnte bei ihrer Arbeit unterstützt. Schichtpläne, Hauspläne, Einführungen, Abholen, sehr viel zuhören und reden, das waren meine Aufgaben. Vielleicht habe ich dadurch mehr Einblicke bekommen, als durch eine Führung durch das wohl schlimmste Flüchtlingscamp Europas.

Unsere Dolmetscher*innen dort haben meiner Meinung nach den härtesten Job. Sie müssen nicht nur zuhören, wie unsere Patient*innen davon berichten, dass sie gefoltert, vergewaltigt und missbraucht wurden und was sie auf dem Weg nach Europa an Grausamkeit und Unmenschlichkeit erfahren mussten, sie müssen es auch gut genug verstehen, um es zu dolmetschen. Bis ins Detail. Alles kann wichtig sein. Viele unserer Freiwilligen haben keine andere Qualifikation, außer fließend Englisch und eine weitere Sprache zu sprechen. Sie haben keine Bewältigungsstrategien erlernt. Sie sind überfordert, wir alle sind das. Das liegt daran, dass wir Aufgaben übernehmen, die eigentlich von bezahlten Expert*innen übernommen werden sollten – aber die gibt es hier nicht. Auch vielen Ärzt*innen fällt diese Arbeit schwer. Nicht, weil sie Leid nicht gewohnt sind, sondern weil sie gewohnt sind, besser helfen zu können. Es gibt aber nicht die richtigen Medikamente, keine ausreichende psychologische Betreuung. Wirklich behandeln lassen sich sowieso nur einige der körperlichen Beschwerden. Und man kann zuhören, aber einer vergewaltigten HIV infizierten Frau nur zuhören zu können, ist nicht genug. In einem Camp wie Moria ist unsere Hilfe genauso dringend nötig wie absolut unzureichend. Vergewaltigungen passieren auch im Camp, auf europäischem Boden – Kinder, Frauen und Männer sind davon betroffen. Es gibt täglich gewaltvolle Konflikte. Die Mehrheit der Geflüchteten hat suizidale Gedanken, viele verletzen sich selbst. Manche kommen in die Klinik mit selbst zugefügten Verletzungen. Ein Hilferuf: Holt mich raus aus Moria, bitte! Wir verarzten die Wunden und schicken sie zurück, bis Moria sie wieder aufreißt, jedes Mal tiefer, jedes Mal weiter entfernt von Heilung.

Kids Activities in Karatepe - leider wird dieses Programm vorläufig nicht weitergeführt werden

Verhaftet am 21. August

Einen Tag nachdem ich ankomme, schließen wir den Bereich Search and Rescue. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieso. Heute schon. Seán ist der Koordinator und nun vor allem damit beschäftigt, allen anderen Sicherheit zu geben. Er hilft den Skipper*innen und Schwimmer*innen, zu anderen Organisationen zu wechseln. Was aus ihm selbst wird, steht noch nicht fest. Wir hoffen, er bleibt, denn er macht einen großartigen Job, egal wo er eingesetzt wird. Er kann gut mit Menschen, ist höflich, zuvorkommend, bedacht und sehr lustig. Man muss ihn einfach mögen. Die letzten Tage bei ERCI arbeitet er in der Klinik in Moria und kümmert sich um die Zuteilung, wer wann in die Klinik darf. Ein harter Job ohne Sprachkenntnisse, den er aber hervorragend zu machen scheint. Am Dienstag, den 21. August, schreibt er mir eine Nachricht auf Whatsapp. Er fragt mich, ob er eines unserer Autos nehmen kann, den Megane. Ich wundere mich und antworte »Yes sure :)« sowie »Are you not in Moria today?«. Das ist die letzte Nachricht, die ich ihm schreibe und sie ist bis heute nicht angekommen.

Sarah soll am gleichen Tag nach Deutschland fliegen. Eine gute Freundin bringt sie zum Flughafen. Sie plant, eine Katze mitzunehmen, das hat sie oft gemacht: Junge Tiere von griechischen Straßen irgendwo in Deutschland unterzubringen, wo ihre Überlebenschancen besser sind und das Leben deutlich lebenswerter. Unsere letzten Nachrichten auf Whatsapp betreffen den Ausweis dieser Katze, den ich habe, und den ich nicht vergessen will. Sarah steigt jedoch nie in den Flieger. Beide, Sarah und Seán, werden am 21. August verhaftet. Sarah am Flughafen in aller Öffentlichkeit. Seán wird in der Klinik informiert und stellt sich selbst. Beide haben nicht damit gerechnet. Beide haben mit Sicherheit keine Vorstellung, was folgt. Die Anklagen sind ebenso schwerwiegend wie absurd. Spionage, Schmuggel, Geldwäsche, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Laut vielen Zeitungsartikeln und Aussagen ihrer Anwälte sind keine Beweise vorhanden. Auch ich kenne keine Beweise, aber ich kenne Seán und Sarah. Niemals würden sie mit Schmuggler*innen zusammenarbeiten, niemals würden sie etwas tun, was nicht jeder anständige Mensch tun würde.


Die Wahrheit ist: Sarah und Seán sind im Gefängnis, weil sie versucht haben, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Heute, Anfang Oktober, sind es bereits 45 Tage, die sie in Gefangenschaft verbringen. Ein Antrag auf Freilassung bis zur Gerichtsverhandlung wurde bereits abgelehnt. Noch drei weitere Mitglieder der Organisation werden festgenommen. Einer unter ihnen, Nassos, war ebenfalls Koordinator und wurde für seine Arbeit genau wie Sarah bereits mit Preisen ausgezeichnet, die viel medialer Aufmerksamkeit zur Folge hatten. Nichts davon nutzt ihnen. Vielleicht ist die Vorbildrolle, die sie einnehmen, sogar ein Grund für ihre Verhaftung, aber das ist reine Spekulation. Wir anderen erfahren erst später von den Festnahmen, viele von uns aus der Zeitung. Die Situation ist bis zum Ende unserer Arbeit Mitte September angespannt und verwirrend. Wir versuchen, unsere Arbeit weiterzuführen, aber das ist fast unmöglich mit dieser Angst und Unsicherheit im Rücken. Ich schreibe nach einem ersten Kontakt mit der FES, die meinen Aufenthalt in Griechenland als Praktikum fördert, der deutschen Botschaft in Athen und frage nach, wie sie die Situation einschätzen und erhalte kurze Zeit später eine Antwort: »Ich empfehle Ihnen, sich hierzu anwaltlich beraten zu lassen, da in Sachen Frau Mardini/ Herr Binder von der griechischen Staatsanwaltschaft der Tatverdacht der angeblichen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung‹ erhoben wurde. Rechtlichen Beistand kann Ihnen ein von Ihnen gewählter und bezahlter Rechtsanwalt zukommen lassen, hierzu habe ich eine Liste an Rechtsanwälten beigefügt. Die von der Botschaft selbstverständlich allen Deutschen gewährte konsularische Hilfe gem. § 5 bzw. 7 Konsulargesetz schützt Sie hingegen nicht vor der möglichen Einleitung eines Strafverfahrens.« Nach dieser E-Mail wird mir bewusst, dass auch ich nicht geschützt bin, wenn gegen mich unbegründete Vorwürfe erhoben werden sollten. Wahrscheinlich könnte es jede*r von uns sein, die oder der da im Gefängnis sitzt. Alle sind sich sicher, dass nicht genug Beweise vorliegen, um Sarah und Seán zu verurteilen.


Bis zum Gerichtstermin in Griechenland kann es dennoch 18 Monate dauern. 18 Monate, in denen das Leben auf Pause gesetzt ist, in denen die Arbeit, die wir aus Überzeugung tun, nicht getan werden kann. 18 Monate, in denen unschuldigen Menschen die schlimmste Strafe des dortigen Rechtssystems, Freiheitsentzug, bereits zugefügt wird. Es gibt keinen guten Grund, Sarah und Seán und alle anderen im Gefängnis zu halten: Sie gefährden niemanden und haben sich selbst gestellt. Es besteht auch keine Fluchtgefahr. Der einzige Grund: Abschreckung. Viele unserer Freiwilligen sind direkt nach Hause gefahren, verständlicherweise. Mitte September mussten wir unsere Operationen bei ERCI offiziell einstellen. Die, die übrig geblieben sind, arbeiten inzwischen für andere Organisationen. Wir versuchen, unsere Projekte am Laufen zu halten, trotz Mangel an Freiwilligen und finanziellen Mitteln. Bis Ende September gelingt uns in vielen Bereichen ein Übergang in Kooperationen mit anderen NGOs. Außerdem haben wir versucht, all das, was wir an Sachspenden noch hatten, zu spenden. In vielen Bereichen gelingt es uns nicht, zeitgleich verschlechtert sich die Situation in Moria laufend. Es wird kalt, mehr Menschen kommen an und die Versorgung wird nicht besser. Es ist Fakt, dass während weiter Menschen an Land ankommen, auch wieder mehr ertrinken. Die, die sie retten könnten, sitzen an verschiedenen Orten in der Festung Europa in Gefängnissen. Unsere Regierungen und die meisten Politiker*innen scheinen sich schon längst gegen jeglichen Anstand und gegen Menschlichkeit entschieden zu haben. Ertrinken ist ein grausamer Tod, leidvoll, angstvoll und langsam. Menschen kämpfen im Meer um ihr Leben und das der Menschen, die sie am meisten lieben, mit ihrer letzten Kraft, bis zum Schluss bleibt die Hoffnung auf Rettung, aber die kommt nicht und dann sieht man die Schwächsten um einen herum ertrinken: die Kinder und Alten, sie verschlucken Wasser, husten, leiden. Panik, wenn sie sich bewusst werden, dass ihr Leben zu Ende ist. Mir wird schlecht, wenn ich darüber nachdenke. Ich will, dass unsere Entscheider*innen für ihre Mithilfe zu tausenden von Morden zur Verantwortung gezogen werden. Wenn ihr keinen Funken Menschlichkeit habt, dann lasst wenigstens die, die ihn haben, ihre Arbeit machen.

Dies ist keine Flüchtlingskrise!

Wir haben und hatten nie eine Flüchtlingskrise. Was wir stattdessen erleben, ist eine Wertekrise in Europa. Es geht um Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit. Die, die versuchen diese Werte, die wir uns selber auf Papier gesetzt haben, da wo sie verletzt werden, zu verteidigen und gerechte Behandlung für schutzsuchende Menschen fordern, setzen sich inzwischen großer Gefahr aus. Für humanitäre Werte einzustehen wird illegalisiert. Das Retten von Menschenleben wird illegalisiert. Viele der Parteien, die überall in Europa Zulauf haben, stehen europäischen, humanitären und demokratischen Grundwerten entgegen. Sie gefährden unsere Demokratie, unser Rechtssystem und unsere Zukunft – und ihre Politik fordert tausende Tote. Wenn wir nicht aufpassen und diejenigen, die unsere Werte, unsere Demokratie und die Menschenwürde angreifen, nicht dafür zur Verantwortung ziehen, dann werden sie all das bald abschaffen. Und dann werden diejenigen, die Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit in Europa verteidigen, bald im Gefängnis sitzen. Eigentlich ist es dafür schon zu spät, denn da sitzen sie bereits.

Geschrieben von unserer Freiwilligen Kim Pöckler


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2 responses to “Wenn Rettung unter Strafe steht – Einsatzbericht aus Lesbos”

  1. Martin Schanz Avatar
    Martin Schanz

    Es wird Zeit alle Verantwortlichen für die europäische und die nationale Flüchtlingspolitik vor den europäischen und internationalen Gerichten für ihre Taten und ihr Unterlassen zu verklagen. Was auf dem Mittelmeer seit Jahren geschied gleicht einem Genozid!

  2. […] >>>Weiterlesen: Kims Erfahrungsbericht aus Griechenland […]

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